18.09.2013

Andean Abyss - Vielschichtige Entscheidungslasagne


Andean Abyss bildet den Auftakt zur sogenannten "Coin Series" aus dem Hause GMT des Designers Volko Ruhnke. Diese hat es sich zur Aufgabe gemacht diverseste historische Konflikte in einer Konfliktsimulation abzubilden, wobei sich die Titel der Reihe in ihrer Spielmechanik nur geringfügig unterscheiden.

Spielverlauf und Spielziel

In Andean Abyss übernehmen 1-4 Spieler die Rollen von völlig unterschiedlichen Fraktionen während des kolumbianischen Bürgerkrieges. Die Spielweise und das Spielziel der vier unterschiedlichen Fraktionen unterscheidet sich dabei sehr stark voneinander.
Während die Regierung und die Rebellenfraktion (FARC) um politischen Einfluss in den diversen Regionen und Städten Kolumbiens kämpfen, agiert die Guerillagruppe der AUC im Untergrund und versucht im richtigen Augenblick möglichst viele Anhänger zu aktivieren. Die letzte Fraktion, die Kartelle, spielen sich dabei losgelöst vom gesamten Trubel. Sie versuchen ihren Gewinn zu maximieren und dabei möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erzeugen.
Jede Fraktion wählt dabei aus einem, ihr eigenen, riesigen Setzkasten an diversester Aktionsmöglichkeiten, wie Truppenbewegung, Angriff, Terror oder Kidnapping und versucht Stück für Stück die Truppen seiner eigenen Fraktion in eine vorteilsreiche Position in den zahlreichen Regionen Kolumbiens zu bringen.
Die komplette Regelerklärung einer Partie Andean Abyss würde die Kapazität des Artikels hierbei sprengen, weshalb ich versuche ein paar einzigartige und interessante Mechanismen aufzugreifen, wie z.B. den der "Coin-Series" eigenen Mechanismus der Aktionswahl und der Evenkartenmechanik.
Das Spiel wird über einen Ereigniskartenstapel getrieben, welcher mit verschiedene historische Gegebenheiten dem Spiel Thema einhauchen. Spielerisch und dabei ebenso wichtig ist aber auch die Zugreihenfolge, welche mit jeder Karte neu festgelegt wird.
Beginnend mit der ersten aktiven Fraktion der aktuellen Zugreihenfolge (Fraktionen werden nach dem Ausführen einer Aktion inaktiv und setzen die Folgerunde aus) wählt der Spieler nun eine von vier möglichen Optionen, welche unmittelbare Auswirkungen auf die Aktion des Folgespielers hat. Diese Optionen bestimmen, wie viele und welche seiner eigenen Aktionen (Bewegung, Angriff usw.) er ausführen darf und wie mächtig diese sind.
Er entscheidet sich zwischen einer mächtigen oder einer normalen Option oder er entscheidet sich dafür das Event zu aktivieren (oder er passt als vierte Option). Dabei der Clou: Je mächtiger die gewählte Option ist, umso mächtiger bzw. größer sind die Auswahlmöglichkeiten des Folgespielers. Wählt man beispielsweise eine schwache Option (einfache Bewegung), kann der Folgespieler nur aus einem begrenzten, weniger mächtigen Sortiment aussuchen (limitierte Bewegung). Passt man, eröffnet man die Möglichkeiten der Erstauswahl dem zweiten Spieler und gibt einer evtl. dritten aktiven Fraktion die Möglichkeit überhaupt diese Runde ins Spiel einzugreifen.
Da das Nachfolgeevent offen ausliegt und einsehbar ist, ist die Option des Passens eine valide Möglichkeit.
Im Kartenstapel sind in jeweils einem Viertel des Stapels so genannte Propagandakarten eingemischt. Diese läuten eine evtl. letzte Runde ein. Schafft es eine Fraktion zu Beginn einer solchen Runde seine Siegbedingung zu erfüllen, endet das Spiel sofort und vorzeitig.

Resume

Andean Abyss ist eines dieser Spiele, welches allein aufgrund seiner Komplexität der Regeln, seiner Vielzahl an Entscheidungsmöglichkeiten und nicht zuletzt seiner Spieldauer viele Neueinsteiger davon abhält in das Erlebnis eintauchen zu wollen. Da hilft es dann auch nichts, dass man verspricht eine schöne Zeit zu haben und spätestens nach den ersten paar Runden einen groben Überblick zu erhalten, warum man überhaupt manche Dinge tun sollte. 
Die Einstiegshürde bei Andean Abyss liegt kilometerweit hoch. Das ist nicht zuletzt auch der unübersichtlichen und teilweise recht verwirrenden Anleitung geschuldet. Diese enthält zwar Antworten auf alle Fragen und bietet am Ende noch einen schönen Index, jedoch ist bei völliger Regelunkenntnis das Erlernen selbiger mehr als kompliziert. Es ist mehr eine Hilfe im Spiel aufgekommene Regelfragen zu klären, als eine Möglichkeit das Spiel zu erlernen.
Das Beiwerk des Spiels ist aber, wie bei GMT mittlerweile gewohnt, super. Ein Playbook bietet sowohl Taktiktipps, als auch ein vollständiges, ausführliches Tutorial und ein wenig Geschichtshintergründe. Der heimliche Star der Komponenten sind jedoch die mitgelieferten Spielerhilfen. Diese sind zwar, aufgrund der Vielfalt der auszuführenden Aktionen jeder Fraktion, unbedingt notwendig, jedoch sind diese übersichtlich, gut strukturiert und leiten jeden Spieler das gesamte Spiel durch den Entscheidungsjungle.
Ist das Regelwerk einmal gemeistert, entpuppt sich Andean Abyss als echtes Schmuckstück, welches fordernd und belohnend zugleich ist. Das Gefühl das Spiel baldmöglichst wieder spielen zu wollen, um die neu gewonnenen Erkenntnisse umzusetzen und den eigenen Zug zu optimieren, stellt sich unmittelbar nach der Partie ein, auch wenn man in erster Linie Erschöpfung verspürt. Erschöpfung von einem nervenaufreibenden, spannenden und jederzeit fordernden Spiel.
Andean Abyss wirkt auf den ersten Blick durchaus wie ein Euro-Spiel. Viele bunte Würfelchen, die um die Vorherrschaft in verschiedenen Gebieten um die Mehrheit kämpfen. Der Schein trügt. Andean Abyss bedient sich nur aus dem Euro-Materialkasten, wo es sinnvoll erscheint. Wo schicke Miniaturen stören würden, passen übersichtliche Holzsteinchen einfach besser ins Konzept.
Aber auch rein spielerisch ist der Titel so garnicht "euro". Das Spiel wird gelebt durch eine permanente Aneinanderreihung von Entscheidungen einer jeden Fraktion, die jede für sich nicht kniffliger sein könnte. Nur selten liegt das Ergebnis auf der Hand. Vielmehr ist es ein permanentes Abwägen von Kosten und Nutzen, von Risiko und Erfolg.
Der Aktionsmechanismus, gepaart mit dem Ereignisstapel ermöglichen Andean Abyss dieses einzigartige Spielgefühl. Dadurch, dass im Regelfall jede Fraktion nur alle zwei Runden zum Zug kommt, darf und muss schon allein an diesem Punkt taktiert werden. Durch die unmittelbaren Auswirkungen einer Aktion einer Fraktion auf die Entscheidungsmöglichkeiten einer anderen, entstehen zudem weitere knifflige und schöne Gedankenspiele. Es gilt nämlich der Grundsatz: Je mächtiger die Aktion ist, welche ich ausführe, umso größer ist die Auswahl der nachfolgenden Fraktionen aus dem Aktionsspektrum.
Das eröffnet völlig neue Fragen: Führe ich nun das Event aus? Das gibt zwar einen aktuellen Vorteil, jedoch ermöglicht es die Nutzung einer Spezialaktion für die andere aktive Fraktion. Oder will ich überhaupt nicht, dass das Event stattfindet? Dann führe ich einfach eine normale, schwächere Aktion aus, welche der nachfolgenden Fraktion lediglich eine limitierte Aktion ermöglicht.
Aber nicht nur diesem Dilemma sieht sich ein jeder Spieler gegenübergestellt. Dadurch, dass immer das nachfolgende Event offen ausliegt, erschweren sich die Entscheidungen im eigenen Zug nochmals um ein Vielfaches. Hinzu kommt, dass die Zugreihenfolge ebenfalls von jedem individuellen Event neu bestimmt wird.
Andean Abyss ist ein permanentes Puzzle, eine vielschichtige Entscheidungslasagne, welche Ebene für Ebene perfektioniert und durchdacht werden will, gepaart mit einer wunderbaren Mischung Metagame und Weltgeschichte. Das Spiel lebt neben permanenten Risiko-Nutzen-Analysen von losen Bündnissen, stillschweigenden Waffenstillständen und feurigen Drohungen zwischen den vier sich höchst-individuell spielenden Fraktionen.
Selten hat mich in den letzten Jahren ein Spiel so gepackt, so fasziniert und in seinen Bann gezogen, wie Andean Abyss. Das Bedürfnis alle Fraktionen kennen zu lernen und ihre Schwächen und Stärken auszutesten, aber auch im kommenden Spiel mit der eben gespielten Fraktion einen anderen Weg zu gehen, ist stark ausgeprägt.
Die Folgetitel der "Coin Series" werden definitiv beobachtet.


Vielen Dank an GMT für die Bereitstellung des Rezensionsexemplares

 

sämtliche Bilder sind von www.boardgamegeek.com bzw. vom jeweiligen Verlag (hier GMT)