08.05.2019

Cerebria


Cerebria – Ästhetische Komplexität bis zur inneren Zerrissenheit

Ein leises Pochen ertönt in der Dunkelheit. Es folgt einem gleichmäßigen Takt und lässt ein rotes Glühen entstehen. Mut und Geselligkeit strömen durch die Dunkelheit und formen zwei kleine Kobolde. Ein gelbes unregelmäßiges klirrendes Geräusch gesellt sich hinzu. Es manifestiert sich in Form einer Schlange und verbreitet Pessimismus. Plötzlich taucht eine rosafarbige Fee aus. Sie strahlt vor Glückseligkeit und bestärkt die kleinen roten Geister. Sie haben das Reich des Wissens für sich erobert und sind bereit es zu halten. Doch sie müssen weiter Stärke zeigen. Denn zwischen all den Ambitionen, Intentionen, Gefühlen und Stimmungen lauert die Düsternis und das Ego. Ob dies der einzige Kampf ist, der in Cerebria ausgetragen wird und ob die fantastische bunte Welt hält, was die Optik verspricht, werde ich für euch in diesem Artikel erkunden.


Hinter den Augen des Betrachter – Das Spielmaterial

Cerebria ist eines der schönsten und materiell umfangreichsten Spiele, dass ich je testen durfte. Das beginnt schon beim weiten Spielbrett, den ausladenden Geisterbrettern und den großen Spielkarten und endet mit den Ambitionsmarkern, den Token für die Stimmungen, den Essenzglasmarkern und den Kunstkristallen für Willenskraft. Auch die Spielfiguren (seien es echte Figuren oder, wie in meinem Fall, 2D-Versionen) sind wirklich hübsch. Bis hierhin erkennt man nur die positiven Seiten, die Crowdfunding mit sich bringt. Einzig die schlichte Form der Befestigungsteile fällt hier irgendwie negativ auf. Aber auch hier sollen ausladende Ornamente einen hochwertigen und fantasievollen Eindruck schinden, was durchaus gelingt.

Doch geht man ins Details, wird es schnell unübersichtlich. Denn was für die meisten Spiele eine Stärke ist, wird für Cerebria zum Fluch. Es wird fast vollständig auf Worte verzichtet und alles, wirklich alles in Zeichen- und Symbolketten versteckt. Was bei manchen Effekten noch einfach erscheint, z.B. 1 lilaner Kristall an einer Schnurr Trennung Plus-Zeichen 4 lilane Kristalle, also „Bezahle einen Kristall und erhalte 4.“, wird nicht mehr nachvollziehbar, wenn auf der Karte ein Kasten mit einem Absorbtionssymbol, einem Pfeil, einem Befestigungssymbol und einem Pfeil nach unten steht, dann hat es sich mit der intuitiv nachvollziehbaren Systematik der Zeichenketten. Und hier beziehe ich mich nur auf das normale Spiel, indem zwei Teams gegeneinander kämpfen.


Im Solo- oder Kooperationsmodus, indem man gegen das Ego spielt, gibt es zusätzlich 12 Anweisungskarten, welche mit Symbolen und Zeichen überhäuft sind. Und weil es davon im Grundspiel anscheinend zu wenige gab, hat man sich für das Ego noch einige ausgedacht.

Die ganze Absurdität des Textweglassens zeigt sich aber erst in den Zusatzblättern und der letzten Seite des Solo- und Koop-Regelwerkes. Auf den Zusatzblättern, von denen es trotz Materialfülle nur eines pro Team gibt, sind nicht nur alle Emotionskarten des jeweiligen Teams abgebildet und ihre Effekte in Textform (aber nicht ohne Spezialbegriffe, die man sich erst herleiten muss) aufgeschrieben, sondern auch noch mit stimmungsvollen Einleitungen versehen. Auf der letzten Seite des Solo- und Coop-Regelwerkes sind dann alle 12 möglichen Aktionen des Egos in Textform festgehalten. Gleiches gilt für die Spezialfähigkeiten jedes Geistes. Man hat also den Text gar nicht eingespart sondern nur, schwerer auffindbar gemacht, indem man ihn von den Karten, Tableaus und dem Spielbrett in die Regelwerke verschoben hat. Das mag etwas schöner aussehen, führt aber auch schneller zur Verwirrung und schreckt gerade neue Spieler schnell ab.
Einzig die Aspirations- bzw. Zielkarten haben unter ihren recht gut und intuitiv verständlichen Zeichen noch in Textform, was diese bedeuten.


Im Endeffekt haben wir fantasievollen und wunderschönes Spielmaterial, dessen extrem positiver Eindruck durch blanke Intuitivlosigkeit der Effekte fast aufgewogen wird.

Emotionale Logik - Die Spielregeln

Um es klar zu betonen: Cerebria ist, entgegen dem, was die fantasievolle und bunte Aufmachung erwarten lässt, ein schweres und komplexes Spiel. Das gilt für den Team-Modus auch, aber vor allem für den Solo- und Koop-Modus. 
Die Regeln sind eine gute Stütze dabei dieses komplexe Spiel zu erlernen. Schritt für Schritt wird man vom Aufbau des Spiels, über den Aufbau der Emotionskarten, bis zum Ablauf einer Runde und den vielen Möglichkeiten, die man für jede Aktion hat gut durch das Spiel geführt. In Grundzügen kann man das Spiel so verstehen. Einfach ist es jedoch nicht.


Das Regelwerke ist so bunt und schrill, wie das gesamte Spiel. Was optisch einen guten Eindruck vermitteln mag, zeugt jedoch eher von schlechtem Aufmerksamkeitsmanagement. Ständig schreit eine andere bunte Überschrift, ein fantasievolles Bild oder Symbol nach meiner Aufmerksamkeit. Ständig und viele häufiger, als üblich, habe ich mich dabei ertappt, dass zwischen Textpassagen gesprungen bin, weil mich ein Bild oder Symbol abgelenkt hat. Unterstützt wird das Ganze von der Aufteilung einer Seite in mehrere Spalten. Hier hätte es gut getan, dass Regelwerk etwas seriöser und ruhiger, als das eigentliche Spiel zu gestalten. Auch wenn dies für den Gesamteindruck insgesamt nicht schwer ins Gewicht fällt.

Wenn man sich aber an den bunten Stil gewöhnt hat, kann man den Regeln gut folgen. Anekdotische Einleitungen zu jedem Abschnitt und Hinweisblöcke, die sich gut vom Text absetzen, lockern das Lesen auf und machen es beim Nachlesen leichter wichtige Informationen zu finden. Die Anekdoten und stilvollen Einleitungen finden sich auch im Anhang und den Zusatz lästern wieder.
Besonders gut, haben mir die Bilder zur Unterstützung der Regeln gefallen. Im Gegensatz zur generellen Gestaltung des Regelwerkes, helfen diese wirklich gut dabei die umfangreichen Regeln, vor allem im Solo- und Koop-Modus, zu verstehen.


Leider hat man beim kompliziertesten Regelteil im Solo- und Koop-Modus, der Erklärung unter welchen Umständen das Ego, wie zu reagieren hat, auf Bilder verzichtet. Diese hätten gut helfen können, die oft hypothetischen und schwierigen Situationen und Entscheidungen besser zu erklären.
Für mich persönlich hätte ein seriöseres und einfacher gestaltetes Regelwerk mit mehr Bildern die Erfahrung des Regellernens deutlich verbessern können. Trotzdem hätten und haben sich mir die meisten Regeln erst im Spiel erschlossen. 

Algorithmischer Egoismus - Das Spiel

Cerebria ist ein Gebietskontrollspiel, in dem man in Teams um die Kontrolle über die 5 Reiche und deren Grenzbereiche kämpft, um durch Auswertungsaktionen eigene Bauteile zu verringern und das Spiel mit möglichst vielen Siegpunkten zu gewinnen. Es lebt von seinen vielen Entscheidungsmöglichkeiten, die ab dem Aufbau zu treffen sind. Welches Team möchte ich Spielen: Glückseligkeit oder Finsternis? Welchen der 4 Geister pro Team möchte ich spielen? Möchte ich die einfacherer Seite A oder die komplexere Seite B nutzen? Spiele ich mit oder ohne starke Emotionen? Welche Emotionskarte nehme ich in mein Deck oder spiele ich mit der Standarddecks oder den Decks der jeweiligen Geister? Die Antworten auf diese Fragen haben allesamte große Auswirkung auf die Spielweise. Denn die Emotionskarten jedes Team heißen nicht nur anders, sondern haben auch andere Effekte. Die Kräfte der Geister sind extrem unterschiedlich und das alles wird durch die komplexere B-Seite noch verstärkt. Was beim ersten Spiel noch etwas viel wirkt, regt ab dem zweiten Spiel schon das Pläneschmieden an. Es macht Spaß diese Entscheidungen zu treffen und man im Spiel nie das Gefühl eine Seite sei stärker, was die Vorfreude auf das nächste Spiel und die nächste Kombination erhöht. 


Doch abseits dieser Entscheidungen ist der Aufbau zäh und kann einige Minuten dauern. Das Brett muß erst umständlich aufgeklappt und zusammengesetzt, die verschiedenen Tableaus ausgebaut und mit Marken bestückt und die Startpositionen ermittelt werden. Letzteres geschieht leider zufällig. Das kann zwar verhindern, dass erfahrenere Spieler Neulinge übertrumpfen können, führt aber auch zu unnötigem Murren, wenn die eigene Startposition den Zugang zu den 3 Ressourcen Willenskraft, Essenz und Ambition erschwert. Eine Möglichkeit die Startposition taktisch zu entscheiden hätte dem Spiel gut getan. Um einen einfachen Einstieg zu ermöglichen, hätte man die Regel ja auch für die ersten Spiele streichen können. 
Denn von den vielen Aktionen und Spielmechaniken bleiben für das erste Spiel “nur” 4 Geister-Aktionen, 5 Reichsaktionen, 3 Ambitions-Aktionen, das Aufwerten und das Absorbieren. Aber der Reihe nach.


Im ersten Spiel kann ein Spieler seine 3 Aktionen nutzen, um sich zu bewegen, eine Emotionskarte zu spielen, eine gegnerische Emotion zu schwächen oder eine Befestigung zu errichten, welches die Stärke des eigenen Team in einem Reich verstärkt. In fortgeschrittenen Spielen gibt es noch die Aktion, ausgespielt Emotionen durch stärkere Versionen auszutauschen. Trotzdem bleibt Bewegen immer die wichtigste Aktion, da alle anderen Aktionen immer nur in den angrenzenden Bereichen ausgeführt werden dürfen. Zusätzlich kann und muss man sich im Laufe des Spiels in Reichen befinden und kann dann 1 von 5 weiteren Aktionen nutzen. Die meisten beziehen sich darauf Emotionen zu verstärken, Karten zu ziehen oder Ressourcen zu erhalten. Aber eine Aktion hat es in sich. Hier kann man eine Emotionskarten des eigenen Teams im Spiel, auf eine leere Position neben einem Teammitglied, auch sich selbst, verschieben. Das bietet zwar gute taktische Möglichkeiten, verdeutlicht aber auch, wie komplex das Spiel ist und wie schwierig es ist, von den Symbolketten auf die genauen Effekte zu schließen. 


Diese, wie alle Aktionen, welche Emotionen betreffen, verändern immer die Stärke in einem Reich und einem Grenzbereich. Die Stärke wird immer sofort geprüft und die Kontrolle dementsprechend verändert. Hierdurch hat man den Eindruck immer aktiv das Spiel und dessen Ausgang zu beeinflussen. Denn kontrolliere ich ein Reich, darf ich die Aktion dieses Reiches vergünstigt nutzen. Kontrolliere ich einen Grenzbereich, verstärkt das die wichtigste Zusatz-Aktion: das Absorbieren. 
Denn vor oder nach einer Aktion hat man grundsätzlich nach 5 Zusatz-Aktionen zu Auswahl. Da wäre das Aufwerten. Hierfür wird man eine Emotion ab, erhält einen Marker in der Farbe bzw. Stimmung der Emotion, den man sofort in die Reihe einer Aktion legen darf, um diese zu verbessern. Dabei werden die Marker immer von links nach recht auf eine Aktion gelegt und dürfen nie farbgleich mit einem anderen Marker in der Aktionsreihe sein. Da Aufwertungen immer die Kosten einen Aktion erhöhen, sind diese optional und müssen nicht mitbenutzt, also auch nicht mitgezählt werden.


Hier zeigt sich ganz deutlich, wie komplex die Entscheidung über eine Aktion in Cerebria sein kann. Welche der Zusatz-Aktionen möchte vor und welche nach der Aktion nutzen? Welche Aktion möchte ich nutzen? Welche Aufwertung möchte ich bezahlen? Das bringt zwar Vielfalt und viele strategische Optionen ins Spiel, steigert jedoch die Komplexität. Da hilft es auch nicht, dass der intuitive Begriff der Farben für die Arten der Emotionen und zugehörigen Marker durch den Begriff der Stimmung ersetzt wurde.
Als weitere Zusatz-Aktion kann man eine der 3 Ambitionen nutzen. Hierfür muss man 1 oder 2 Ambitionsmarker deaktivieren. Dabei handelt es sich um eine Teamressource, welche extrem schwierig zu erzeugen ist, aber auch starke Optionen freischalten. So kann man für 2 Marker einfach eine weitere Aktion erhalten oder für je 1 Marker einen freien Stimmungsmarker einer eigene Aktion zuteilen bzw. das Spherenpentagon in der Mitte um eine Ecke weiter drehen. 


Besonders letzteres ist wichtig für die Zusatz-Aktion Absorbieren. In Abhängigkeit von meiner Position auf dem Spielbrett darf ich aus einer von maximal 2 angrenzenden Spheren Willenskraft entnehmen. Wie viel ich entnehmen darf, hängt auch davon ab, wie viele Grenzbereiche das eigene Team kontrolliert. Aus welcher Spheren ich Willenskraft entnehme ist extrem wichtig, da ich einerseits durch jede Sphere einen kleinen Bonus erhalte, wie zusätzliche Karten oder Essenz und ich sofort eine Offenbarung auslöse, wenn eine Sphere nach der Entnahme leer sein sollte. 

Offenbarungen sind die Auswertungsphasen in Cerebria  Hier schaut sich jedes Team an, ob es seine geheimes und / oder das allgemeine Ziel erreicht haben. Hat ein Team ein Ziel erreicht, darf es ein kleines Befestigungsteil außerhalb des Spiels in die Mitte auf die sogenannte Identität legen. Hat ein Team beide Ziele erreicht, darf es ein großes Teil außerhalb des Preis auf die Identität legen. Steht einem Team das ablesbare Teil nicht zur Verfügung, legt das stattdessen das Endteil auf die Identität. 
Nach dieser Auswertung würde das Spiel enden und die Punkte gezählt. Hier für sind zahlen die Befestigungsteile in der Mitte entscheidend und in fortgeschrittenen Spielen, sowie zwingend im Solo- und Coop-Modus, die erreichten Intentionen, von denen jede 1 Siegpunkt wert ist. Erreicht ein Team davon 20 würde, das Spiel ebenfalls enden. 


Am Ende jeder Offenbarung, wird das allgemeine Ziel umgedreht und das nächste Ziel, welches offen mit allen allgemeinen Zielen in einer Reihe liegt, wird aktiv. Dabei ist egal, ob ein Team das Ziel erreicht hat oder keines der Team. So endet das Spiel spätestens nach 9 Auswertungen bzw. Offenbarungen.

Immer wieder ist mir bei den ersten Spielen aufgefallen, wie schwierig es war alle Optionen und deren Auswirkungen auf einem Blick zu erfassen und so den bestmöglichen Zug zu machen. Immer wieder haben meine. Mitspieler und ich festgestellt, dass wir hatten günstigere oder bessere Optionen hätten nutzen können. Das klingt erstmal, wie ein Problem, das man bei jedem neuen Spiel hat, ist in Cerebria extrem ausgeprägt, da es einfach so viele Ebenen gibt, die zu beachten sind. Dadurch gerät das Spiel auch immer wieder ins Stocken und der eigentlich schöne Spielzeugs wird gestört. 

Besonders deutlich wird diese Unterbrechung im Solo- und Koop-Modus. Nicht nur, dass der eigene Zug viel komplexer wird, weil das Ego als NPC einen viel größeren Aktionsradius und die Wirkung einer Aktion extremer sein kann. Man muss auch die Aktionen des Egos ausführen. Und in einem Wahn, alle Eventualitäten bedacht haben zu wollen, muss man als Spieler extrem intensiv, komplex und auch zeitaufwendig prüfen, welche Aktion das Ego nun genau ausführt und vor allem, wie und gegen welches Ziel. Dabei muss nicht nur geprüft werden, welches Ziel das Ego gerade verfolgt, sondern auch wie sinnvoll eine Aktion wäre bevor oder nach dem sich das Ego bewegt hat. Der Solo- und Coop-Modus wirkt so zwar nicht, wie so oft, aufgesetzt, ist aber so kompliziert, dass er ein eigenes Regelwerk braucht.


Imagination und Größenwahn - Das Fazit

Cerebria ist ein fantasievolles, einfallsreich Reiches und sehr strategisches Spiel. Jede Aktion hinterlässt Spüren auf dem Spielbrett und hat erkennbare Auswirkungen. Es bleibt durchgehend spannend und hat einen extrem hohen Wiederspielwert. 
Leider ist es aufgrund komplexer Strukturen, vieler eigener Begriffe und wenig intuitiver Symbolketten gerade in den ersten Spielen eher ein Studium, als ein Spiel. Die tolle Spielwelt kommt so nicht gut rüber.
Wer sich also gerne tief in strategisch und spielerisch komplexe Spiele einarbeiten, kommt in Cerebria voll auf seine Kosten. Wer aber wegen der Optik, von einem fantastischen leichten Spiel ausgeht, der wird enttäuscht werden und sollte lieber die Finger davon lassen.
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Cerebria: The Inside World von Richard Amann, Viktor Peter, Istvan Pocsi, Frigyes Schoeberl, Nick Shaw und David Turczi
Erschienen bei Mindclash Games
Für 1 bis 4 Spieler in ca. 120 Minuten
sämtliche Bilder sind von uns selbst erstellt oder aus dem Pressematerial des jeweiligen Verlages (hier Mindclash Games)