16.08.2022

Living Forest


Wie steht ihr so generell zu den Entscheidungen der Spiel-des-Jahres-Jury? Ich muss zugeben, dass es auch mir als Vielspieler hin und wieder schwerfällt, die Nominierungen und Auszeichnungen nachzuvollziehen, vor allem im Kennerbereich. Manch einer wünscht sich halt, dass ein Arnak letztes Jahr und ein Dune Imperium dieses Jahr Kennerspiel des Jahres wird, oder noch besser, vielleicht sogar ein Wasserkraft oder ein Arche Nova? Doch man muss sich als begeisterter Vielspieler wohl damit arrangieren, dass wir nicht die Zielgruppe der Jury sind und es wohl auch nie sein werden. Ernannte man 2018 Quacksalber von Quedlinburg zum Kennerspiel des Jahres, so fragte sich unsereins, wieso es bei dieser Komplexitätsstufe nicht zum Spiel des Jahres gekürt wurde. Und auch dieses Jahr gibt es einen Sieger, der wieder ähnliche Gefühle beim gemeinen Vielspieler auslösen könnte. Die Rede ist von Living Forest, das dieses Jahr den begehrten Pöppel in Anthrazit ergattern konnte.


Hierbei haben wir es mit einem recht zugänglichen Deckbuilder zu tun, der auf Push-Your-Luck und Racing-Elemente setzt, also das Rennen ums Erfüllen einer (oder mehrerer) der drei Sieg- bzw. Spielendebedingungen. Das Ganze wurde dann in eine putzige Naturgeisterwelt gesteckt und heraus kam der neue Erfolgshit (?) vom Pegasus Verlag. Und so putzig wie das Thema ist auch das Design des Spiels mit niedlichen Waldtieren auf den Karten, einem aufstellbaren Pappbaum als Startspielermarker, vier Pappstandies in Naturgeisterform und allerlei Plättchen, ebenfalls aus Pappe. Die Qualität der Karten und Plättchen sowie des Materials überhaupt ist völlig in Ordnung und auch das Regelwerk ist übersichtlich und verständlich gestaltet.


Doch was genau tun wir denn nun in Living Forest? Tatsächlich werden Kenner sogleich Parallelen zum oben genannten Preisträger aus 2018 erkennen. Doch während wir in Quacksalber Zutatenchips aus einem Beutel ziehen, ziehen und legen wir in Living Forest Karten mit den Tieren des Waldes aus, und anstatt die gefährlichen Knallerbsen im Blick zu behalten – da der Kessel bei Quacksalber ab einer bestimmten Anzahl Knallerbsen explodiert –, müssen wir in Living Forest die Einzelgänger unter den Tieren im Blick behalten. Man deckt also Karte für Karte auf und kann jedes Mal neu entscheiden, ob man mit den bereits ausliegenden Karten zufrieden ist, oder ob man eine weitere ziehen möchte. Sobald man jedoch den dritten Einzelgänger aufdeckt, muss man gezwungener Maßen aufhören und in der darauffolgenden Aktionsphase mit nur einer einzigen statt zwei Aktionen auskommen.

Anders als in der Tierphase, in der alle Spieler gleichzeitig Karten ihres Decks ziehen und auslegen, führen die Spieler in der Aktionsphase ihre Aktionen nacheinander aus, wobei man nicht nacheinander dieselbe Aktion zwei Mal ausführen darf. Hier wird geschaut, welche Symbole (Sonnen, Wasser, Pflanzen, Wind und Heilige Blumen) man durch die ausliegenden Tiere angesammelt hat, denn diese verwendeten man nun für die unterschiedlichen Aktionen.


Für Sonnen kann ich neue Waldtiere aus einer Auslage „anlocken“ und sogleich oben auf mein Deck legen, sodass ich sie in der nächsten Tierphase als erste ziehe. Hierbei gibt es drei verschiedene Tierstapel mit günstigen, mittelteuren und sehr teuren Tieren, von denen jeweils vier Tiere offen ausliegen. Alle Tiere bringen neue Symbole mit sich, wobei manche auch Symbole abziehen z.B. + drei Wasser und + eine Pflanze, aber – eine heilige Blume. Darüber hinaus kann man sich weitere Einzelgänger anlocken, die mich in der Tierphase zwar früher dazu zwingen aufzuhören, dafür jedoch meist einige Symbole mit sich bringen. Hat man am Ende der Runde insgesamt 12 oder mehr heilige Blumensymbole ausliegen wird im Übrigen das Spielende eingeläutet.


Die anderen zwei Möglichkeiten das Spielende einzuläuten sind Bäume und Flammen, von denen man ebenfalls 12 fürs Spielende benötigt. Wassersymbole erlauben es mir – thematisch passend – Brände des bösen Onibi zu löschen, die den geweihten Baum bedrohen und den Frieden des Waldes in Gefahr bringen. Ich zähle meine Wassersymbole zusammen und nehme mir entsprechende Flammenplättchen aus der Mitte, die entweder den Wert 2, 3 oder 4 haben, sodass ich mir mit 8 Wassersymbolen beispielsweise zwei Flammenplättchen mit dem Wert 3 und eines mit dem Wert 2 nehmen könnte, sofern welche beim geweihten Baum liegen. Für die Spielendebedingung sind die Werte jedoch egal, hier brauche ich nur 12 beliebige Flammenplättchen.

Für die Pflanzensymbole kann ich mir für eine Aktion genau einen Baum pflanzen, den ich auf ein 3x5 Raster angrenzend zu einem anderen bereits von mir gepflanzten Baum lege. Jeder gepflanzte Baum gibt mir einen bestimmten Dauereffekt, wie z.B. dauerhaft zwei Sonnensymbole mehr. Außerdem bekommt man beim Vollenden einer Spalte oder Reihe sowie durch das Bepflanzen der vier Eckfelder des Rasters weitere dauerhafte sowie einmalige Boni. Und hat man insgesamt 12 unterschiedliche Bäume gepflanzt, löst man ebenfalls das Spielende aus, wobei man auch denselben Baum für den Effekt mehrfach pflanzen darf, sofern die Mitspieler den Baum der Begierde nicht bereits weggeschnappt haben.


Für Wind kann man sich mit seinem Naturgeist auf einem Steinkreis bewegen, um einerseits die Bonusaktion auszuführen, die auf dem Feld, auf dem ich lande, abgedruckt ist, z.B. eine Extraaktion Brände löschen oder Tiere anlocken. Andererseits ist es auch mein Ziel, die anderen Naturgeister zu überspringen, um ihnen eines von drei Bonusplättchen zu stehlen. Denn jeder Geist beginnt mit drei Bonusplättchen, die ihnen von Spielbeginn an einen Extra-Baum, ein Extra-Flammenplättchen sowie eine Extra-heilige-Blume bescheren. Überspringen ich also mit vielen Windsymbolen zwei andere Geister, nehme ihnen – falls noch vorhanden – jeweils das Bonusplättchen mit der Extra-Flamme und habe zudem bereits 9 Flammenplättchen plus mein eigenes Bonusplättchen, komme ich ebenfalls auf 12 Flammenplättchen, sodass das Spielende nach dieser Runde eingeläutet wird, sofern mich kein anderer Geist in dieser Runde überspringt, um mir wieder eines der Bonusplättchen zu entreißen.

Schließlich kann ich mir als Aktion noch auch ein Magie-Fragment nehmen, mit dem ich beim Auslegen der Tiere in der Tierphase ein beliebiges Tier beim Ziehen gleich wieder ablegen darf – z.B. einen ungewollten Einzelgänger. Zudem erlaubt es mir ein Magie-Fragment, einen bösen Feuersalamander dauerhaft loszuwerden, der mir keine Symbole bringt und dennoch als Einzelgänger zählt. Feuersalamander bekommt jeder Spieler, der am Ende der Aktionsphase nicht genügend Wassersymbole hat, um die noch beim geweihten Baum übriggebliebenen Flammen erfolgreich abzuwehren. Anschließend werden neue Flammenplättchen zum geweihten Baum gelegt, und zwar abhängig davon, wie viele Tiere in dieser Runde angelockt wurden, nämlich Flammenplättchen der Stufe 2 für jedes angelockte günstige Tier, der Stufe 3 für jedes mittelteure Tier und Stufe 4 für jedes teure.


Zuletzt wird die Tierauslage wieder aufgefüllt, die Spieler legen ihre ausliegenden Tiere auf den eigenen Ablagestapel und es beginnt eine neue Runde mit der Tierphase, außer ein oder mehrere Spieler erfüllen eine oder mehrere der Spielendebedingungen. Ist es nur ein Spieler, hat dieser gewonnen. Sind es mehrere Spieler wird geschaut, wer in Summe die meisten Bäume, Flammenplättchen und heiligen Blumen hat. Ja doch, beim Beschreiben des Spielablaufs fällt mir dann doch auf, dass für ein lupenreines Familienspiel vielleicht doch ein, zwei Elemente zu viel in Living Forest stecken. Doch ob wir es nun mit einem anspruchsvollen Familienspiel oder einem leichteren Kennerspiel zu tun haben ist am Ende gar nicht entscheidend. Wichtiger ist doch, ob das Spiel Spaß macht, und das tut es.

Das Push-Your-Luck-Element hält die richtige Waage zwischen Risiko und Belohnung, das Deckbuilding-Element ist simpel, lässt aber doch verschiedene Strategien zu, und das Racing-Element sorgt für eine stetige Spannung, sobald das Spiel aufs letzte Drittel zugeht. Doch am meisten beeindruckt hat mich die elegante Verzahnung der einzelnen Aktionen, die das Spiel am Ende deutlich interaktiver machen als es zunächst den Anschein macht. Denn fährt man eine Strategie mit dem Fokus aufs Ergattern der Flammenplättchen, ist man gleichsam darauf angewiesen, dass neue Tiere von Spielern angelockt werden, da nur dadurch wieder neue Flammenplättchen ins Spiel kommen. Ist man nicht darauf aus, zwölf verschiedene Bäume zu pflanzen, könnte man dennoch in Erwägung ziehen, einen der teureren Bäume doppelt zu pflanzen, da es von ihnen nur zwei Exemplare gibt – auch bei einer Partie mit vier Spielern. Und da es insgesamt nur 12 verschiedene Bäume in der Auslage gibt, ist man in diesem Fall u.U. darauf angewiesen, die Bonusplättchen mit Extra-Bäumen von den Mitspielern durch das Überspringen im Steinkreis zu erhalten.


Im Grunde spielt zwar jeder irgendwie für sich, und dennoch muss man stets im Blick behalten, was die anderen so tun, um die eigenen Aktionen daraufhin anzupassen. Zudem spielt es eine große Rolle, wer Startspieler ist, da erst am Ende einer Runde angelockte Tiere aus der Auslage nachgelegt werden und entsprechend neue Flammenplättchen ins Spiel kommen. Schnappt mir also der Startspieler alle ausliegenden Flammenplättchen vor der Nase weg, bringen mir meine 10 Wassersymbole in dieser Runde rein gar nichts… Doch weiß ich, dass ich in der nächsten Runde Startspieler bin, locke ich in dieser Runde vielleicht noch ein paar Tiere mit Wassersymbolen mit meinen Sonnen an, da diese dann gleich ganz oben auf mein Deck wandern und ich gleichsam für Nachschub von Flammenplättchen sorge. Es ist also schön und gut seine eigene Strategie zu verfolgen und trotzdem muss ich mich je nach dem, was meine Mitspieler so treiben, ständig auf die neue Spielsituation einstellen und meine Strategie vielleicht auch nochmals spontan ändern oder zumindest feinjustieren. Auch wenn ich die meisten Partien zu dritt oder zu viert gespielt habe, funktioniert das Spiel auch zu zweit und wird hier im Grunde sogar noch ein weniger strategischer, da man durch die reduzierte Anzahl an Spielern mehr Kontrolle über das Spielgeschehen hat.


Nichtsdestotrotz ist es am Ende des Tages dann halt doch ein relativ seichtes Kennerspiel, das zwar Raum fürs Ausprobieren mehrerer Strategien lässt, sich aber doch nach einiges Partien ausgespielt haben wird. Allerdings stellt sich hier die allgemeine Frage, ob ein Kennerspiel überhaupt mehr leisten muss als Spielspaß über – sagen wir einfach mal und dies ist lediglich eine Schätzangabe meinerseits – zehn Partien. Es kommen schließlich jedes Jahr zahlreiche Kennerspiele auf Spitzenniveau auf den Markt, und würden wir jedem davon zehn Partien abverlangen, hätten wir wohl keine Zeit mehr für die wirklich wichtigen Dinge im Leben… Expertenspiele :P Doch vielleicht habt ihr ja auch deutlich länger Spaß an Living Forest und wollt gar nicht mehr heraus aus dem magischen Wald voller Naturgeister und putziger Tiere… Außerdem darf man bei einem frisch gekürten Kennerspiel optimistischerweise auf eine baldige Erweiterung hoffen.


Living Forest ist ein wirklich gelungenes Brettspiel, das sowohl Familien mit höherem Spieleanspruch als auch Kennerspielern, die sich nach der richtigen Balance aus Strategie und Gemütlichkeit sehnen, eine Menge Spaß bringen kann. Vor allem diejenigen, die auf Deckbuilding und Push-Your-Luck Elemente stehen und sich ein putziges aber zugleich auch recht interaktives Spiel wünschen, können mit Living Forest nicht viel falsch machen. Obwohl ich mich mittlerweile nach meinen sieben oder acht Partien bereits ein wenig satt gespielt habe, werde ich es mal in der Sammlung behalten und schauen, ob die Lust in ein paar Monaten vielleicht wieder kommt. Zu diesem Zeitpunkt sind meine Patenkinder auch sicher bereit für dieses „Kennerspiel“, zumal ich sie bereits mit anderen Deckbuildern und bald auch mit Quacksalber schonmal darauf vorbereiten werde. Ich wünsche euch jedenfalls viel Spaß mit Living Forest! Und aufpassen beim Streicheln der Eule, die beißt!

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Living Forest von Aske Christiansen
Erschienen bei Pegasus Spiele
Für 2 bis 4 Spieler in ca. 30-60 Minuten ab 10 Jahren
sämtliche Bilder sind von uns selbst erstellt oder vom jeweiligen Pressematerial des Verlages (hier Pegasus Spiele)
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