Die Zeit läuft – und mit jeder Runde wird es weniger. 13 Minuten, um genau zu sein. Mit jeder Runde verstreicht eine weitere Minute. Dann wird es passieren: Die Raumstation stürzt ab. An Bord? Noch zahlreiche Menschen, Maschinen, Tiere – jeder mit seiner eigenen Agenda, mit Zielen, die es in diesen letzten 13 Minuten zu erreichen gilt. Überleben – klar. Aber das ist bei weitem nicht der einzige Anspruch…
Willkommen bei Stationfall, einem verrückten und einzigartigen Brettspiel aus der Feder von Matt Eklund für ION Game Design, ins Deutsche gebracht von Corax Games. Auf den ersten Blick wirkt Stationfall wie ein weiteres komplexes Weltraumspiel – ähnlich wie High Frontier vom selben Verlag. Doch auf den zweiten Blick offenbart sich: Es ist so viel mehr. Und vor allem, etwas völlig anderes.
Im Spiel befinden sich 12 Charaktere – Menschen, Androiden und sogar ein Affe, der für ordentlich Chaos sorgt. Der Clou: Im Prinzip können wir alle Charaktere beeinflussen, bewegen und durch sie Aktionen ausführen. Jeder Spieler erhält zu Beginn geheim einen Charakter, dessen Ziele er erreichen möchte. Um diese Ziele umzusetzen, darf (und sollte) man aber auch andere Charaktere verwenden – um so besser zu verbergen, welcher Charakter wirklich zu einem gehört.
Ein Spielzug beginnt damit, dass man optional einen Einflussmarker auf einen Charakter legt. Nur wer Einflussmarker auf jemanden gesetzt hat, darf ihn später auch aktiv nutzen und Aktionen ausführen. Doch aufgepasst: Andere Spieler dürfen denselben Charakter ebenfalls nutzen, sofern sie mindestens genauso viel Einfluss auf ihn ausüben. Daraus ergibt sich ein taktisches Element: Ich kann absichtlich mehr Einfluss einsetzen, als ich brauche, um Mitspielern den Zugriff zu erschweren – denn je mehr Marker nötig sind, desto teurer wird die Nutzung. Nicht eingesetzte Einflussmarker bringen am Ende übrigens Siegpunkte, sodass diese Ressource clever eingesetzt werden will.
Nach der Einflussvergabe darf ich mit einem Charakter, den ich beeinflusse, Aktionen ausführen. Lege ich meinen Aktionsmarker auf einen Charakter ohne vorherige Nutzung, stehen mir zwei Aktionen zur Verfügung. War der Charakter bereits aktiv, gibt es nur eine.
Die Aktionen selbst sind recht simpel: sich von Raum zu Raum bewegen, Orte benutzen, Gegenstände aufnehmen, ablegen oder übergeben. Dabei gehören Gegenstände immer dem Charakter – nicht dem Spieler, der diesen gerade steuert.
Eine Ausnahme bilden die sogenannten „kompromittierenden Materialien“, welche erlauben, Charaktere auch ohne Einfluss zu nutzen.
Was man eigentlich erreichen will, hängt ganz vom Charakter ab, den man geheim gezogen hat. Insgesamt existieren 20 verschiedene Charaktere, von denen pro Partie 12 mitspielen. Ihre Ziele sind so individuell wie schräg – hier einige Beispiele:
Der Ingenieur möchte, dass die an Bord befindliche Antimaterie vor dem Eintritt in die Erdatmosphäre explodiert. Zusätzlich dürfen keine infizierten Charaktere sowie das Artefakt die Erde erreichen. Bonuspunkte gibt es außerdem, wenn er „unschuldig“ die Erde betritt – aber auch ein schuldig gewordener Ingenieur kann gewinnen (dazu gleich mehr).
Der Affronaut (ja, ein Affe!) möchte nur eines: lebend zur Erde zurück – dabei aber bitte mit Aktenkoffer, Artefakt und Waffe im Gepäck.
Die Ziele reichen also von skurril bis widersprüchlich, was zu herrlich absurden Spielsituationen führen kann. Um zu überleben, sollte man zum Spielende hin eine funktionierende Rettungskapsel erreichen und sie auslösen (oder dies durch andere veranlassen).
Ein zentrales Element: Verdacht. Wer sich negativ verhält – etwa andere Charaktere in beleuchteten Räumen angreift –, wird verdächtig. Wird aus Verdacht „Schuld“, kann der entsprechende Charakter das Spiel nicht mehr gewinnen – außer, seine Siegbedingungen erlauben explizit eine „schuldige“ Rückkehr. Pläne sabotieren oder Verbündete verraten kann also taktisch klug – oder völlig fatal sein.
Einmal im Spiel dürfen sich Spieler offenbaren – also bekanntgeben, welcher Charakter sie wirklich sind. Dadurch werden neue Fähigkeiten freigeschaltet, Ereignisse angestoßen und andere Spieler dürfen diesen Charakter dann nicht mehr einsetzen. Enthüllungen machen vor allem dann Sinn, wenn viele Ziele bereits erfüllt sind und es darum geht, „den Heimweg anzutreten“.
Am Ende der Partie prüfen alle „lebenden“ und unschuldigen Charaktere, ob und wie viele ihrer persönlichen Ziele erfüllt wurden. Der Spieler mit den meisten Punkten gewinnt.
Was soll ich sagen? Stationfall ist ein sehr spezielles Spiel – keines, das ich bedingungslos jedem empfehlen würde. Aber wenn man sich darauf einlässt und die nötige Zeit mitbringt, entfaltet es ein absolut großartiges Spielerlebnis. Man benötigt mindestens zwei bis drei Partien in derselben Gruppe, um die Abläufe, Zusammenhänge und Tiefen wirklich zu verstehen. Dann jedoch... wird es magisch.
Stationfall bedeutet für die Gruppe zunächst Arbeit. Denn: 20 verschiedene Charaktere – mit unterschiedlichen Zielen, Spezialfähigkeiten und Wechselwirkungen – sollte man möglichst gut kennen. Nur dann wird das Spiel zu dem spannenden Täuschungswettlauf, das es sein kann. Eine echte Hilfe ist das beiliegende Charakterbuch, in dem alles mitsamt Hintergrundgeschichte erklärt wird. Tipp: Einscannen und vorab an Mitspielende schicken!
Auch die Anleitung ist... besonders. In zwei aufeinanderfolgenden Lernpartien wird der Spielablauf (teilweise) erklärt. Leider erfährt man viele Dinge erst in der zweiten Hälfte – oder gar nicht. Zentrale Infos stehen im separaten Referenzhandbuch, das mit seinem Aufbau an die Bedienungsanleitungen alter Videorekorder erinnert: viele Unterpunkte, aber umfassend. Zum Nachschlagen gut – zum Einstieg eine Qual.
Auch der Aufbau von Stationfall ist aufwendig. Viele Kleinteile, davon nicht alle jedes Mal im Spiel – je nachdem, welche Charaktere verwendet werden. Das kostet Zeit. Bei der Optik bin ich gespalten: Vieles wirkt durchdacht und stilistisch stimmig – gleichzeitig leidet die Übersichtlichkeit. 3D-artige Raumdarstellungen mit diversen Farben erschweren das Auffinden bestimmter Räume. Mehr Übersicht wäre wünschenswert, aber: Mit jeder Partie wird das besser.
Stationfall ist ein Liebhaberspiel. Kein Spiel für die breite Masse. Es verlangt Zeit, Engagement und Lust auf ein kommunikatives Erlebnis mit viel Täuschung, Chaos und Interaktion. Wenn man das alles mitbringt, wird man großzügig belohnt: mit einzigartigen Geschichten, kuriosen Interaktionen und Partien, die noch lange in Erinnerung bleiben. Anekdoten-Garantie inklusive!
Die Hürde ist hoch – vielleicht zu hoch für manche Gruppen. Doch gerade inmitten der vielen seelenlosen Dauer-Optimierungsspiele ist Stationfall eine echte Perle, die es zu entdecken lohnt.
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